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Was erzählt man seinem Kind, wenn man gemeinsam auf der Flucht vor Krieg und Gewalt ist?

Derzeit sind weltweit mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht, darunter Millionen von Eltern mit ihren Kindern. In „Children of the Labyrinth“ (Kinder des Labyrinths) erzählen neun Eltern in persönlichen Briefen an ihre Kinder über ihre Erfahrungen. Sie alle sind in Griechenland gestrandet und berichten von der angsterfüllten und beschwerlichen Reise, von dem Gefühl, hilflos im Labyrinth der europäischen Asylpolitik gefangen zu sein, aber an erster Stelle thematisieren sie die Liebe zu ihrem Kind.

Dieses Projekt ist in enger Zusammenarbeit mit den Eltern entstanden. Angetrieben von dem tiefen Wunsch, den alle Eltern haben - eine sicher Zukunft für ihr Kind zu schaffen - fanden sie sich unwissentlich mit ihren Kindern in einem lebensbedrohlichen Labyrinth aus hohen Mauern, gewalttätigen Schlägern, Menschenhändlern und Zeltlagern wieder. Die Briefe geben einen ehrlichen und ungeschminkten Einblick, wie es sich wirklich anfühlt: „Es hat tiefe Narben in unseren Herzen hinterlassen.“

Trailer 1:09 min (deutsche Untertitel)

„Wir hoffen, dass unsere Briefe unseren Kinder später, wenn sie älter sind, helfen werden besser zu verstehen, was damals geschah.“

 - Die Eltern

Briefe, Porträts und Filme

Dieses Projekt besteht aus neun handgeschriebenen Briefen von Eltern aus Afghanistan, Kamerun, Iran, Syrien, Kongo und Irak, die alle in Griechenland gestrandet sind.

Neun einzelne Filme (je 4-7 Minuten) sowie ein kombinierter Film (10 Minuten) zeigen die Briefe sowohl einzeln als auch zu einem einzigen Brief im verwoben. Die Filme sind unten auf dieser Seite zu finden. Ganz unten steht eine gemeinsame Erklärung der Eltern.

Die Musik wurde von dem niederländischen Pianisten Joep Beving speziell für dieses Projekt komponiert. Verfolgen Sie Updates zu diesem Projekt auf Instagram.

1. Latifa & Mozhda

Vor fünf Jahren flüchteten die Englischlehrerin Latifa und ihre Familie nach einem Angriff der Taliban aus ihrer Heimat in Afghanistan. Nach einer harten Zeit im Iran und in der Türkei, wo sie als Afghanen jeden Tag Gefahr liefen, abgeschoben zu werden, stiegen sie auf der Suche nach einer sicheren Zukunft in ein Schlauchboot nach Griechenland. Zum Zeitpunkt des Briefes sind sie bereits seit mehr als drei Jahren gezwungen, im Camp Moria zu leben, wo sie nach vier Ablehnungen keine andere Wahl haben, als einen fünften Asylantrag zu stellen.

In ihrem Brief schreibt Latifa an ihre erstgeborene Tochter Mozhda (rosa Mütze) über den wunderschönen Tag vor acht Jahren, an dem sie "so weiß wie Schnee und so weich wie Baumwolle" geboren wurde. Emotional blickt sie auf die angstvolle Flucht zurück und darauf, wie schrecklich verängstigt sie auf der Bootsfahrt über das Meer waren. Mit ansehen zu müssen, wie ihre Tochter unter den harten Bedingungen des Lagers aufwächst, macht sie als Mutter hilflos. "Meine Liebste, das ist nicht das Leben, das du verdienst."

6:17 min (deutsche Untertitel)

2. Fabiola & Soan

Nach einer schweren Kindheit mit zwei Entführungen (durch Milizen) flieht Fabiola - im fünften Monat schwanger - von Kamerun nach Griechenland, wo sie nach einem gewaltsamen "Pushback" auf dem Ägäischen Meer krank und erschöpft auf der griechischen Insel Samos ankommt. Als die Behörden sie nach Athen bringen, damit sie ihren Sohn Soan in einem Krankenhaus zur Welt zu bringen kann, gehen alle ihre Papiere verloren. Zum Zeitpunkt, als der Brief geschrieben wurde, lebt sie in einer Unterkunft in Athen.

In dem Brief an ihren Sohn erzählt Fabiola ihm von den ersten Wochen der Schwangerschaft, die nicht ihre eigene Entscheidung war. Obwohl das Leben zu dieser Zeit sehr schwierig war, fühlte sie instinktiv, dass sie den "kleinen unschuldigen Engel" in ihrem Bauch beschützen musste. Sie verspricht ihm, dass sie ihm eine Mutter und ein Vater sein wird, wie es sich jedes Kind wünscht. "Endlich habe ich meinen Begleiter fürs Leben".

5:42 min (deutsche Untertitel)

3. Zahra & Kimiya

Zum Wohle der Zukunft ihrer Tochter beschließt Zahra, mit ihr aus dem Iran zu flüchten, wo sie als afghanische Flüchtlinge keine Chance haben. In Europa angekommen, landen sie in einem Zelt im Camp Moria, „wo die Mäuse über ihre Gesichter liefen“. Sie sind gezwungen, monatelang durch die Straßen von Athen zu irren, während sie immer noch keine richtigen Papiere haben. Zur Zeit des Briefes warten sie in einer winzigen Wohnung (die von einer französischen Wohltätigkeitsorganisation bezahlt wurde) auf ihre griechischen Aufenthaltspapiere.

In ihrem Brief berichtet Zahra von der sehr anstrengenden und demütigenden Zeit, in der sie ohne Geld und Unterkunft durch die Straßen der griechischen Hauptstadt liefen, während Kimiya schwere Herzprobleme entwickelte und ihnen niemand helfen wollte. Sie hofft, dass ihre Tochter ihren großen Traum, Ärztin zu werden, verwirklichen kann und bezeichnet sie als „eine wundervolle Lehrerin, die Gott ihr geschenkt hat“. „Im süßen Klang deines Lachens spüre ich Hoffnung.“

4:02 min (deutsche Untertitel)

4. Nazir-Ahmad & Yasna

Nachdem der afghanische Motorradmechaniker Nazir-Ahmad - der selbst als Kind mit seinen Eltern in den Iran geflohen ist - sein ganzes Leben lang mit Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert war, beschließt er, dass das Leben seiner kleinen Tochter Yasna ein anderes sein soll: ein Leben mit mehr Möglichkeiten. Er trägt sie buchstäblich vom Iran nach Europa und überquert dabei die schwierigsten Grenzen. Doch zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Briefes sitzen sie seit fast zwei Jahren in einem Zeltlager in Griechenland fest und versuchen, nach bereits zwei Ablehnungen einen dritten Asylantrag zu stellen.

In seinem Brief schreibt Nazir-Ahmad offen über die tiefen Schuldgefühle, die er als Vater empfindet, weil seine Tochter ihre junge Kindheit in einem Lager "mit bitterkalten Wintern und unerträglich heißen Sommern" verbringen muss, aber dass er weiterhin die tiefe Hoffnung hegt, sie an einen Ort bringen zu können, an dem sie frei ist und zur Schule gehen kann. "Triff deine eigenen Entscheidungen, mein liebes kleines Mädchen, und erlaube niemandem, dich jemals mit Verachtung zu behandeln. Sei frei."

4:21 min (deutsche Untertitel)

5. Asma & Muhammad

Nachdem der Krieg in Syrien tiefe Wunden im Leben von Asma und ihrer Familie hinterlassen hat, beschließen sie in die Türkei und später nach Europa zu flüchten, wo sie eine furchtbare Zeit im Lager Moria und später in Athen durchleben. Zum Zeitpunkt des Briefes ziehen sie von einem temporären Haus zum anderen, die Miete wird von Freunden im Ausland bezahlt. Ihr Asylverfahren ist auf Grund von Verlust ihrer Asylanträge bei den griechischen Behörden bis auf Weiteres verzögert.

In dem Brief an ihren ältesten Sohn Muhammad beschreibt Asma sehr emotional den Raketenangriff auf ihr Haus in Syrien, bei dem er schwer verletzt wurde und sein Großvater starb. Sie waren die beste Freunde. Sie hofft, dass ihr Sohn seinen Traum, Astronaut, Fußballer oder Ingenieur zu werden, verwirklichen kann, und sie ehrt ihn mit den Worten, dass sie noch nie einen schöneren Jungen als ihn gesehen hat. "Ich bin so stolz auf dich."

4:45 min (deutsche Untertitel)

6. Fatima & Sogol

Für die Friseurin Fatima war die Zukunft ihrer zweijährigen Tochter Sogol der Grund für ihre Flucht aus dem Iran, wo sie in ihrer Kindheit als afghanischer Flüchtling selbst Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren hat. Sie wünscht sich, dass ihr Kind in einem Land aufwächst, in dem Gleichberechtigung herrscht. Zum Zeitpunkt, als sie den Brief schreibt, warten sie jedoch bereits seit fast zwei Jahren in einem Flüchtlingslager mit zwei Ablehnungen in der Tasche.

In ihrem Brief erzählt Fatima, wie sie sich die Augen aus dem Kopf geweint hat, als sie mit ihrem winzigen Baby in einer Schwimmweste das Meer überqueren musste und wie schwer es ihr fiel, dass ihre Tochter später die bittere Kälte im Lager ertragen musste. "Du hast gezittert, als ich dir die Windel gewechselt habe." Sie hofft, dass sie ihren dritten Geburtstag an einem besseren und sichereren Ort als in ihrem Zelt feiern werden.

6:09 min (deutsche Untertitel)

7. Prisca & Happyness

Als Prisca - nach einer schweren Kindheit in einer Adoptivfamilie in Kinshasa - vermutet, dass "Menschen mit einem schlechten Herzen" ihr neugeborenes Baby Happyness töten wollen, flüchtet sie Hals über Kopf aus dem Kongo und landet über Umwege in der Türkei und später in Griechenland. Nach einem Jahr in einem Flüchtlingslager auf Samos erhält sie eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für Griechenland, Happyness jedoch noch nicht. Zum Zeitpunkt des Briefes versuchen sie, sich ein neues Leben in Athen aufzubauen.

In ihrem Brief beschreibt Prisca die Geburt ihrer Tochter als einen Moment, in dem ein Engel auf die Erde kommt, eine „wunderschöne kleine Barbiepuppe“. Sie schreibt über den beschwerlichen Flug, davon, wie kalt und nass es war, über Momente, als sie ihr auf dem Schiff Lieder vorsang und als sie ihrem Arm schlief. "Ich kann dir nicht alles schreiben...". Sie beendet ihren Brief mit dem Versprechen, ihre Tochter für immer zu beschützen. "Alles, was ich tun kann, ist, dich glücklich zu machen."

4:48 min (deutsche Untertitel)

8. Gita & Najma

Vor vier Jahren lebte Gita mit ihrer Familie noch in Karte-e-Naw, einem 1950er-Jahre-Viertel in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Bis zu dem Moment, als ihr Mann, der als privater Chauffeur arbeitet, von den Taliban ernsthaft bedroht wird. Es folgt eine furchbare Flucht in Richtung Türkei, wo Gita von Grenzsoldaten an der iranisch-türkischen Grenze brutal verprügelt wird. Um der drohenden Abschiebung zu entgehen, fahren sie nach einem Jahr Aufenthalt in der Türkei mit einem kleinen Boot nach Griechenland.

In dem liebevollen Brief an ihre Tochter beschreibt Gita sie als ein sehr kluges, freundliches und lustiges Mädchen und hofft, dass sich ihr Zukunftstraum - Polizistin zu werden - eines Tages erfüllen wird. Sie erzählt auch von dem konfrontativen Tag im Lager, als die Familie unerwartet ihre zweite Asylablehnung erhielt. Das hat Najma so tief getroffen, dass sie in Tränen ausbrach: "Warum können wir kein normales Leben führen?!" "Es war so herzzerreißend, dass auch unsere Nachbarn anfingen zu weinen."

3:52 min (deutsche Untertitel)

9. Iman & Mahmoud

Als die Kämpfe und Gefahren des Krieges ihrem Zuhause in Nordsyrien zu nahe kommen, beschließen Iman und ihr Mann Aziz zusammen mit ihrem Baby Mahmoud aus ihrer Heimat zu flüchten. Nach einer blitzschnellen zweiwöchigen Reise über die Türkei kommen sie in einer dunklen Nacht mit dem Boot auf Lesbos an, wo ihr Asylantrag nach anderthalb Jahren Wartezeit im Camp Moria genehmigt wird. Zum Zeitpunkt dies Briefes warten sie auf ihre griechischen Aufenthaltsgenehmigung.

In ihrem Brief erzählt Iman ihrem Sohn von der schrecklich schweren Entscheidung, ihre Familie und Nachbarn in Syrien zurückzulassen, "aber es war der einzige Weg, um dir ein besseres Leben zu ermöglichen". Es folgte eine harte Zeit im Lager, in der Mahmoud krank wurde. Sie hofft, dass Mahmoud später alles was passiert ist vergisst und viele neue Freunde finden wird. "Mein Sohn, es war nicht mein Plan, dass wir wie echte Flüchtlinge leben würden."

3:37 min (deutsche Untertitel)

Kombinierter film

In diesem Kurzfilm werden alle Briefe zu einem einzelnen Brief vereint.

9.47 min (deutsche Untertitel)

Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn, Zuhause ist das Maul eines Haifischs
— Warsan Shire

Lieber Zuschauer,

Wir danken Ihnen von Herzen, dass Sie unsere Briefe gelesen haben.

In den letzten Jahren gerieten wir und unsere Kinder unwissentlich in ein lebensbedrohliches und demütigendes Labyrinth aus hohen Stahlmauern, Stacheldraht, Schlägertypen, Rückschlägen, Menschenhändlern, eiskalten oder glühend heißen Zeltlagern und schleppend langsamen Asylverfahren. Eine Welt, in der nur der Reisepass darüber entscheidet, welche Rechte man hat - und ob es überhaupt welche gibt.

Inzwischen befinden sich einige von uns an einer anderen Stelle des Labyrinths, auch wenn die meisten noch in Verfahren stecken, die Zukunft ungewiss. Doch das macht den Inhalt unserer Briefe nicht weniger relevant. Denn auch heute noch werden Eltern durch Gewalt, Ausgrenzung oder Entmündigung zur vielleicht schwierigsten Entscheidung ihres Lebens gezwungen: Sie müssen aus ihrem Zuhause und ihrem Heimatland flüchten, zusammen mit ihrem wertvollsten Besitz auf dem Arm: ihrem Kind.

Nur wir wissen, welch zermürbender Weg auf sie wartet. Wie die Jahre der Sorge und Ungewissheit einen in den Wahnsinn treiben können. Und wie schrecklich sich die Hilflosigkeit anfühlt, wenn man seinem Kind nicht das geben kann, was es verdient hat. Das hat tiefe Narben in unseren Herzen hinterlassen. Mit unseren Briefen hoffen wir, dass sie - und damit auch wir - gesehen werden.

 

In Liebe,

Latifa, Nazir-Ahmad, Fabiola, Iman, Zahra, Gita, Fatima, Asma und Prisca.